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LESEPROBE

Leseprobe
S. 22 bis 33

Ich muss an dem betrunkenen Alten vorbei. Als ich direkt neben ihm bin, grapscht er nach mir, umfasst meine Taille und zieht mich unsanft an sich heran. Er stolpert, reißt mich fast zu Boden dabei und faselt etwas wie "Komm Süße, so jung kommen wir nicht mehr ..."

Angewidert winde ich mich aus seinem Griff und dränge mich zwischen den Menschen weiter zum Ausgang vor. Der Ärger muss mir deutlich im Gesicht stehen, jedenfalls erreicht mich plötzlich eine sympathische männliche Stimme - ganz dicht an meinem Ohr. "Eine solche Laune sollte man auf keinen Fall mit nach Hause nehmen. Ich wäre dir ja gern zu Hilfe gekommen, aber ich war nicht schnell genug."

Kein Zweifel, das gilt mir. Ich drehe mich um und sehe mich einem langmähnigen jungen Blonden gegenüber, der allein an einem der Stehtische neben der Eingangstür lehnt. Ich weiß nicht, was mich treibt, aber ich bleibe stehen, schiebe ein paar der Gläser auf dem Tisch zur Seite, die zu Hauf darauf warten, abgeholt und gespült zu werden, stütze mit einem Rest an Aggressivität meine Ellbogen auf die runde Tischplatte. "So?", frage ich ihn. "Was würdest du denn mit der schlechten Laune machen?"

"Dafür sorgen, dass ich sie wieder los werde, und zwar so schnell wie möglich", grinst er mich an.

Ich sehe ihm direkt in die Augen, die erst nachdem er die Haarsträhne, die sie zur Hälfte bedeckt, an die Seite streift, eine Chance haben, überhaupt wahrgenommen zu werden. "Und was schlägst du vor - wie soll das gehen?"

"Indem du noch ein bisschen bei mir bleibst. Wir schaffen das schon." Gönnerhaft schiebt er ein Glas Bier zu mir herüber, und sein Lächeln zeigt mir den winzigen Spalt zwischen seinen oberen Schneidezähnen. "Wie heißt du?", fragt der Mund unter dem kleinen, frechen Schnäuzer.

"Carla", antworte ich - fast wie unter Zwang. "Und du?"

"Ich bin der Paul."

Und nach den üblichen Fragen, ob ich auch "von hier" und öfter in dieser Kneipe sei, (was ich verneine), frage ich ihn spontan - eine dumme Angewohnheit von mir - nach seinem Sternzeichen.

"Waage", sagt er, "sechster Oktober."

"Ich bin vom zehnten", sage ich.

"Ach, auch Oktober?"

Ich nicke und lächele zurück.

Er fragt mich, ob ich - da ich nach so etwas gefragt habe - von Horoskopen etwas halte, das täten doch die meisten Frauen.

"Nicht von den Vierzeilern in den Zeitschriften", erkläre ich, "die mir erzählen wollen, dass ich in der kommenden Woche unglaubliches Glück in der Liebe und im Beruf fantastische Aufstiegschancen haben werde, aber ich glaube schon, dass die Stellung der Planeten zum Zeitpunkt der Geburt einen gewissen Einfluss auf das Temperament oder den Charakter eines Menschen hat."

Er nickt zustimmend, und wieder lächeln wir uns an. "Ja, das könnte ich mir ebenfalls vorstellen, auch wenn mir schleierhaft ist wie das funktionieren soll. Vermutlich gibt es aber Dinge zwischen Himmel und Erde, für die wir Menschen einfach noch zu blöde sind."

Wie man eben so redet, wenn man sich gerade erst kennengelernt hat, unterhalten wir uns übers Wetter - nun, da der August ausklingt und der September beginnt, spekulieren, ob es ein harter oder milder Winter werden wird, sprechen - jetzt vor den Wahlen im Land, die laut Umfragen ein Lager an die Macht bringen könnte, das wir offenbar beide nicht sehr schätzen, auch den drohenden Klimawandel, die immer weiter steigenden Energiepreise an, halten beide Atomkraftwerke für viel zu gefährlich und finden, dass die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft in letzter Zeit auf ein Höchstmaß gewachsen sind. Ja, wir sind uns, was die wichtigsten Bereiche des Lebens angeht, einig.

Plötzlich haben wir Getränke nachbestellt, und alles um mich herum erscheint mir wie hinter einem Weichfilter, ohne feste Konturen und völlig nebensächlich - wie der laufende Fernseher, den ich, wenn ich mich auf die Arbeit konzentriere, irgendwann nicht mehr beachte, aber auch nicht abschalte, weil mir die Hintergrundgeräusche das Gefühl vermitteln, nicht allein zu sein. Dass draußen vor der Tür eventuell ein paar Leute auf mich warten, habe ich inzwischen völlig vergessen.

Auf sein Nachfragen erzähle ich ihm, dass ich Lehrerin sei, dass mir das Fach Geschichte besonderen Spaß mache, dass ich als Kind zum Beispiel die Schliemann-Bücher verschlungen habe und gern Archäologin geworden sei, dass aber auch Biologie eines meiner Lieblingsfächer sei.

"O je, Lehrerin", stöhnt er, "die wissen immer alles besser und laufen ständig mit erhobenem Zeigefinger herum."

Ich muss mir ein Alle-über-einen-Kamm-Scheren zwar entschieden verbitten, und das betone ich mit entsprechendem, etwas übertriebenen Nachdruck auch, doch das leise Zischen, das einige seiner Worte mit S-Laut durch die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen begleitet, finde ich niedlich, und während ich meinen Blick nicht von seinen Lippen wenden kann, als er mir ebenfalls seine frühen Träumen offenbart, warte ich amüsiert auf den nächsten S-Laut.

Bald weiß ich, dass er nach dem Abitur - ebenso wie ich ("ho, ho - männliche Lehrer halten ihren Zeigefinger wohl immer flach ...") - auf Lehramt studiert, nach dem Referendarjahr jedoch keine Stelle bekommen hat. Zur Überbrückung habe er eine Schreiner-Lehre gemacht, "eigentlich habe ich schon immer lieber mit den Händen gearbeitet, ganz praktisch also - hatte nie Lust, mich mit wissenschaftlichen Theorien herumzuschlagen", und dass er sich - nach ein paar Jahren als Geselle in einem kleinen Tischler-Betrieb mit seinen beiden Freunden Bernd, dem Elektriker, und Magnus, dem Maler und Computerfreak, mit einer Art Recycling-Firma selbstständig gemacht hat. "Unglaublich, was Menschen manchmal wegwerfen. Wir möbeln alles wieder auf, was irgendwie noch zu retten ist. Dann verkaufen wir es wieder zu erschwinglichen Preisen." Mir fällt auf, dass er sich beim Reden in einer immer wiederkehrenden Geste die Haare aus dem Gesicht streicht. Das macht mich ein wenig nervös, und ich verspüre ab und zu den Drang, ihm die Hand einfach festzuhalten, damit ihm auffällt, wie automatisch und sicher unbewusst er das macht.

Schließlich erfahre ich, dass sein Vater im Gegensatz zu meinem eher ein sympathisches "Weichei" ist, einer, der zuhause nicht viel zu sagen hat, dem der Bergbau, wie Paul es ausdrückt, "vor zwei Jahren den Steiger-Job wegrationalisiert" habe, und der nun - wie viele andere Menschen leider auch - ohne Arbeit und Hartz-IV-Empfänger sei. Die Familie würde durch die Mutter, die zum Glück wenigstens einen Job als Arbeiterin am Band einer Kunststoff-Fabrik gefunden habe, eher schlecht als recht über Wasser gehalten, das decke neben dem lächerlich wenigen Geld, das der Vater nach über 30 Jahren schwerer Arbeit vom Staat erhielte, nur das Existenzminimum, und sich derart einzuschränken fiele seiner Mutter, gewöhnt an einen anderen Standard, doch sehr schwer. Vielleicht gehe es ihr in letzter Zeit auch gesundheitlich deshalb nicht sehr gut ...

Ich nehme Letzteres mit Bedauern zu Kenntnis und gebe zu, dass so etwas wie Arbeitslosigkeit meinem Vater als Beamtem glücklicher Weise nie habe passieren können, und dass das nach seinem Tod auch ein Segen für meine Mutter sei, denn sie könne von ihrer Witwenpension recht gut leben. Kurz bevor wir aufbrechen erzähle ich ihm auch noch von Shira, und das bringt ihn auf seinen eigenen Hund, den er sehr geliebt hat. Leider sei der auf dem Wirtschaftsweg vor dem Hof, den er mit seinen Freunden gepachtet habe, unter ein Auto gekommen und an den Verletzungen gestorben, worüber er seinerzeit maßlos traurig gewesen sei, was er auch bis heute noch immer nicht ganz verwunden habe. Das kann ich ihm sehr gut nachfühlen, ist doch auch für mich ein Leben ohne Shira kaum vorstellbar.

Dieser Paul kommt mir nach allen Dingen, über die wir in relativ kurzer Zeit bereits geredet haben, schon sehr vertraut vor, und sein niedergeschlagener Gesichtsausdruck bringt mich nun fast dazu, ihn tröstend zu umarmen. Doch ich reiße mich zusammen.

Fraglos ist nach zwei oder drei Stunden an einen Abbruch des Abends nicht zu denken. Obwohl wir uns bis dahin - außer spontanen, flüchtigen Berührungen unserer Hände - kaum angefasst haben, fühle ich mich zu ihm hingezogen. Er ist mir sympathisch. Ich finde ihn angenehm unaufdringlich. Mit ihm zu reden macht mir Spaß, und er gefällt mir auch äußerlich recht gut: hoch und gut gewachsen, ein hübsches Jungengesicht mit klaren Augen und offenem Blick - so man beides wegen der immer wieder zurückfallenden blonden Haarsträhne überhaupt zu sehen bekommt. Er hat es tatsächlich geschafft, meine Laune erheblich aufzuhellen.

Ohne mich zu zieren willige ich ein, als er mir anbietet, mich nach Hause zu begleiten. Er schlägt vor, auf ein Taxi zu verzichten. "Nach der verqualmten Höhle kann frische Luft nicht schaden, was meinst du?" Auch ich halte das für eine gute Idee.

Draußen hat nun doch leichter Nieselregen eingesetzt. Die Stühle der Straßencafés sind vom Personal schräg gegen die Tische gelehnt worden, damit das Wasser besser abperlen kann. Die Jahrmarktstände haben sich hinter heruntergelassenen Planen zurückgezogen, und unsere Schritte auf dem feuchten Kopfsteinpflaster werden von den Häuserwänden mit ungefiltertem Hall zurückgeworfen.

Irgendwann gibt es die erste Pause, in der er mich in seine Arme zieht. Wie selbstverständlich lasse ich es mir gefallen, ist in mir doch auch der Wunsch gewachsen, ihm näher zu sein. Sanft nimmt er mein Gesicht in beide Hände und küsst meine geschlossenen Augen, meine Stirn, meine Nase, bevor seine Lippen meinen Mund umschließen, der sich bereitwillig für ihn öffnet. Sein Bärtchen kitzelt ein wenig, und es ist ungewohnt für mich, da ich bisher nie einen Mann mit Bart geküsst habe. Doch schon nach wenigen Sekunden registriere ich es nicht mehr.

Etwas benommen löse ich meine Lippen von seinen, lehne meinen Kopf ein Stück zurück. Wir sehen uns lächelnd in die Augen. "Du riechst gut", flüstere ich, beuge mich wieder vor und beschnuppere seinen Hals.

"Du auch", sagte er und küsst mich wieder.

Passanten nehmen wir kaum wahr. Wir stehen so lange eng umschlungen bei einander, bis uns jemand anrempelt und eine Bemerkung macht, die sich nach "spart euch das für zuhause auf" anhört. Doch das Lallen ist nur mit Mühe zu verstehen, und das, was der Betrunkene danach noch sagt, kann bei exakter Übersetzung auch einen Schlag ordinärer gewesen sein.

"Haargenau so klang meine Oma, wenn sie abends ihre Zähne im Glas hatte", wispert Paul mir ins Ohr, und wir prusten los. Er nimmt mich bei der Hand, und wir laufen rasch weiter, um von diesem besoffenen Typen wegzukommen. Unterwegs erzählt Paul - anknüpfend an seine Bemerkung eben - von seiner Großmutter, dass sie ihm in der Familie eigentlich immer die Liebste gewesen sei, da sie von allen dort noch die Aufgeschlossenste war. In allem, was er bisher getan habe, habe sie ihn verständnisvoll unterstützt, "auch als ich den Job gekündigt und mit diesem Recycling-Projekt angefangen habe. Dafür hat sie sogar einen Teil ihres Sparbuches gespendet. Leider ist sie jetzt schon über ein Jahr lang tot. Aber nein", er wehrt mein aufkeimendes Bedauern für ihn ab, "keine Sorge, ich habs überwunden."

Natürlich legen wir auf unserem langen Weg noch ein paar weitere Pausen ein, und seine Küsse bringen in mir eine Saite zum klingen, die ich für tief vergraben hielt.

"Lebst du hier ganz allein?", fragt er - schließlich neben mir auf dem grauen Ledersofa, während seine Augen im Schnelldurchgang meine Wohnung abfahren, eine Hand meine Schulter beknetet und die andere hingebungsvoll von Shira abgeschleckt wird. Auch sie hat ihm gegenüber keine Sekunde lang gefremdelt.

Nach meinem zustimmenden Nicken und dem lachenden Verweis auf Shiras Zuneigungsbekundungen bemerkt er, dass er es irgendwie unsozial fände, wenn eine Person allein ein so großes Haus bewohne, während sich andere auf engem Raum zusammenquetschen oder gar unter der Brücke leben müssten.

Das sehe ich im Grunde ähnlich, und ich beginne, mir um die Ideale meiner Studentenzeit Gedanken zu machen. Bei dieser Gelegenheit fällt mir mit ungläubigem Erschrecken auf, dass diese Zeit schon eine halbe Ewigkeit hinter mir liegt.

"Hast du das hier gemietet, oder ist es deins?"

"Ich habs gekauft", gestehe ich und schäme mich fast dafür, dass ich mir inzwischen ein eigenes Haus leisten kann.

"Und? Bist du verheiratet, oder so was?"

Mit "oder so was" meint er vermutlich eine feste Beziehung. "Nein, aber ich war es zweimal."

"Was denn, gleich zweimal?"

"Ja, zweimal. Und du?"

"Für mich ist das - glaube ich - nichts", sagt er und konzentriert sich dabei auf Shiras Ohren. "Bin bisher so gerade noch davongekommen."

"Und sonst?", frage ich und meine damit "oder so was".

"Du meinst, eine Freundin?"

"Ja, eine Freundin."

Mir ist, als flöge ein leichter Schatten über sein Gesicht, doch er hat sich schnell wieder im Griff. "Im Augenblick eigentlich nicht."

"Was heißt eigentlich nicht?"

"Na ja, ich kenne schon einige Frauen, mit denen ich befreundet bin, aber ich glaube nicht, dass du die meinst. Also nichts Festes, Enges." Er schüttelt die langen, blonden Haaren. "Nee, im Augenblick nicht."

Als er wieder damit beginnt, mich näher an sich heran zu ziehen und sich nun unter meinem Pullover zielstrebig nach oben arbeitet, fällt mir ein, dass ich ihm bisher eine wichtige Frage noch nicht gestellt habe. "Sag mal, wie alt bist du eigentlich?"

"Meinst du in Zahlen oder interessierst du dich für das Gefühl?", fragt er grinsend zurück. "Manchmal fühle ich mich wie hundert."

Ich kneife die Augen zusammen und zupfte an seinem Ohrläppchen. "Wenn es dir nichts ausmacht, wüsste ich schon ganz gern die Zahl."

"Was schätzt du?"

Die Haare müssen aus seinem Gesicht, um dieses vielleicht trügerische Indiz der Jugend auszuschalten und um feststellen zu können, wie er mit dem kurzen Schnitt eines gestandenen Beamten auf mich wirkt. "Dreiundzwanzig?"

"Fast siebenundzwanzig", schmunzelte er mich an. "im Oktober. Und du?"

Für einen Augenblick bin ich geneigt, auch ihn mein Alter erraten zu lassen. Dann entscheide ich mich jedoch dagegen, denn möglicherweise hätte es mich doch getroffen, wenn er zu weit nach oben gegriffen hätte. "Nun ja", sage ich daher zögernd, "bei mir sinds schon vierzig. Genau genommen bald dreiundvierzig, ebenfalls im Oktober." Ich lächele noch, aber ich spüre, wie beim Vergleich dieser Zahlen für mich die Wirkung des Alkohols ziemlich rapide nachlässt.

"Was solls?", flüstert er gegen meine Stirn. "Du bist nett. Und das ist es doch, worauf es ankommt, oder?"

Dann stützt er sich am Sofa ab, muss ein wenig darauf achten, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und nimmt den Zettel mit meiner Telefonnummer und meiner Emailadresse vom Tisch. Er faltet ihn und schiebt ihn in die Brusttasche seiner Jeansjacke. "Ich werde jetzt gehen", sagt er mit einem kleinen Seufzer und zieht auch mich aus dem Sofa zu sich hoch, "aber darf ich wiederkommen?"

Ich zucke mit den Schultern und lächele verlegen. "Mal sehen. Vielleicht."

Oder hätte ich da besser "Nein" sagen sollen? ...

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©2010 by Ulrike Linnenbrink